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Elmer Wasser

CTAC-Ost-Ausfahrt vom 26.9.2010

Rudolf Weber

Alte Glarner dachten wohl, es sei ein Leichenzug. Schwere schwarze Wolken liegen tief im Tal und lassen die steilen Bergwände des Glärnisch nur erahnen. Pausenlos strömt Regen vom Himmel. Die Bergbäche sind angeschwollen und bringen eine graue Fracht zu Tale. Auf der Kantonsstrasse nähert sich ein Konvoi von schwarzen Limousinen in mässigem Tempo um schliesslich im Flecken Ennenda zu parkieren. Im Kino würde nun die Kamera auf einen Trauerzug schwenken, welcher einem schwankenden Sarg in den Friedhof folgt. Doch die an diesem Regentag seltenen Passanten wunderten sich, dass die schwarze Flotte vor der Konditorei Cornetto Station machte und die Stimmung unter den "Trauergästen" keineswegs gedämpft war.

Der muntere Zug verschwand in dieser bekannten Glarner Bäckerei während es den Einheimischen dämmerte, dass es offensichtlich in der Oldtimerszene nicht nur die bekannten Schönwetterfahrer gibt sondern auch Verrückte, welche bei Sturm und Regen und angedrohtem Temperatursturz keinesfalls versäumen wollen, quer durch die halbe Schweiz zu fahren um im Glarnerland Gleichgesinnte zu treffen. Die Rede kann hier natürlich nur vom Citroen Traction Avant Club sein, welcher für seine Fahrfestigkeit berühmt ist. Man hat schon gehört, dass Teilnehmer an Ausflügen der Region Nord enttäuscht waren, wenn Petrus die Sonne voll scheinen liess und ihren Beitrag zurückforderten, da doch schlechtes Wetter bei Ausfahrten dieser Region notorisch sei.

In der Backstube des Cornetto

Da es aber im CTAC keine Schlechtwettergarantie gibt und die Region Nord heuer nicht schaffte, seinen Ausflug ins Klettgau mit einem Tief zu koordinieren, übernahm die Region Ost die Herausforderung und platzierte seinen Anlass präzise unter das Tiefdruckgebiet Kathrein, welches an diesem Wochenende unser Land durchquerte.

Um den unterkühlten Teilnehmer, welche den meist ungeheizten Wagen entstiegen, ein warmes Willkommen zu bieten, luden die Organisatoren Hans Brunner mit seinen zwei Töchtern, Werni König und Hans Bollhalder die Teilnehmer nicht etwa ins Café der Bäckerei, sondern gleich in deren Backstube ein. Noch selten hat das Gipfeli so frisch geschmeckt und der Kaffe so anregend gewirkt und tatenlustig drängten die Tractionisten bald wieder zu ihren Autos, sind sie doch Teilnehmer eines Fahrzeug-Clubs und nicht eines Kaffee-Kränzchens.

Benjamin Streit mit Vater Hansueli als Co-Pilot

Entsprechend zügig wurden nun die 500 Höhenmeter nach Elm zurückgelegt, obwohl im Traction-Konvoi Benjamin Streit seinen 80-jährigen C4 unter die im Vergleich modernen Fronttriebler geschmuggelt hatte.

Mit in der Gruppe war übrigens auch ein Gast. Unser weltweit vernetzter Aktuar und Clubheftredaktor Hans Georg Koch stellte uns diesmal einen Iren vor, welcher von Hause her eigentlich Schiffbauingenieur ist, aber lieber seiner grossen Eisenbahnleidenschaft mit Reisen zu berühmten Bahnstrecken frönt. Hans Georg hat ihn auf einer abenteuerlichen Eisenbahnfahrt von New York nach Chicago kennengelernt. Ein zwischen Latinos und Schwarzen ausgebrochener Streit, der in Handgreiflichkeiten ausartete, bewog einen irischen Touristen namens Philip McKinstry ins sonst leere Abteil eines anderen Touristen zu flüchten, welcher sich als Hans Georg Koch aus der Schweiz vorstellte. Dieses Jahr unternahm der heute im Consulting Business tätige McKinstry eine Reise in die Schweiz um hier spektakuläre Bahnlinien zu besuchen. Nach einer Reise mit der Berninabahn nach Tiran, schätzte er nun als Abwechslung eine Fahrt mit unseren gepflegten Veteranenfahrzeugen.

Philip McKinstry und Hans Georg Koch

Nach der Ankunft in Elm stellte sich der betagte Fuhrpark auf dem Firmenareal der Elmer-Citro-Werke auf wobei die Ähnlichkeit dieses Namens mit unserer Lieblingsmarke nicht beabsichtigt sondern rein zufällig ist. Doch nicht die Degustation dieses einheimischen Brausegetränkes war das Ziel sondern ein wesentlich älteres Gewerbe, welches 1881 weltweit Schlagzeilen machen sollte.
Die findigen Bergler profitierten ab Mitte des 19. Jahrhunderts von der Einführung der Schulpflicht in weiten Teilen Europas und vermarkteten den hochqualitativen Elmer-Schiefer in Form von Schreib- und Wandtafeln in der halben Welt. Das Schiefertafelmuseum, welches den faszinierten Clubmitgliedern durch eine einheimische Führerin in ausgeprägtem Glarnerdeutsch vorgestellt wurde, zeugt von den Höhe- und Tiefpunkten dieser speziellen Industrie.

Im Schiefertafelmuseum

Das einträgliche Gewerbe verlockte die Verantwortlichen im vorletzten Jahrhundert zur rücksichtslosen Ausbeutung der Steinbrüche. Ohne auf die Warnung des Elmer Forstwartes zu achten, der ob dem Steinbruch grosse Spalten entdeckte, die ganze Tannen verschluckten, wurde gegraben bis es am 11. September 1881 zum bis heute unvergessenen Bergsturz von Elm kam, welcher 114 Einwohnern das Leben kostete, 83 Häuser verschüttete und 60 Hektar fruchtbares Land mit Steinen und Geröll zudeckte. Schier unglaublich mutet der Lebenswille der Elmer an, wenn man erfährt, dass sie mit Weib und Kindern die Felsbrocken, welche schon mal die Kubatur eines Einfamilienhauses aufweisen konnten, sprengten und kleineres Gestein mit Eisenschlegeln verkleinerten, dann die Hänge wieder ausebneten, mit Mist bedeckten und letztendlich den wüsten Geröllhang wieder in saftige Matten umwandelten.

Heute sieht man nichts mehr vom Verderben und die Abbruchstelle blieb den Tractionisten wegen den tiefliegenden Wolken anfänglich verborgen. So konzentrierte man sich auf das Innere des Museum welches in einer Gewerbeliegenschaft liegt, die einst diesem Wirtschaftszweig diente. Nach dem Rückgang der Nachfrage ab Ausbruch des 1. Weltkrieges nahm die Produktion stetig ab und die Abschaffung von Schiefertafeln führte 1961 zum endgültigen Untergang der Elmer Schieferindustrie. Zum endgültigen? - Nein, nicht ganz. Ein kleiner Betrieb, welcher auf die Fabrikation von Schiefertafeln für Schüler aber auch für Jasser spezialisiert war, überlebte als Nischenbetrieb fast unverändert bis in die 80er Jahre. Als der Besitzer starb, blieb das Fabriklein lange unberührt stehen, da niemand Interesse am vernachlässigten Gebäude oder am völlig veralteten Maschinenpark hatte. Glücklicherweise entdeckte die 1994 gegründete Stiftung "Landeseplattenberg Engi" diese einzigartige Industrieperle und machte sie der Öffentlichkeit zugänglich. Die einzelnen Arbeitsgänge können nun an den immer noch funktionierenden Maschinen der heutigen Generation vorgeführt werden.


Natürlich entspricht die Ausrüstung mit ihren offenen Transmissionsriemen und ungeschützten Kreissägeblättern bei weitem nicht den SUVA-Vorschriften. Für die Einfärbung der Leselinien oder Rechenhäuschen auf den Schülertafeln wurde ganz selbstverständlich das hochgiftige Bleimenninge verwendet. Das staubige Gewerbe konnte nur unzulänglich gelüftet werden und erinnert daran, dass in früheren Zeiten Schieferarbeiter frühzeitig an Staublungen gestorben sind. Auf der Führung wird nicht verhehlt, dass für die Arbeit auch Kinder herangezogen wurden, welche deshalb nur die halbe Schulzeit absolvieren konnten. Es ist schier unglaublich, wenn man den vielen Arbeitsgängen folgt, dass das Schlussprodukt für Fr. 2.50 verkauft werden konnte und Assoziationen zum heutigen China, welches uns so günstig die wunderbarsten Produkte liefert, tauchen unwillkürlich auf.
Beim anschliessenden Mittagessen im Hotel Elmer hat sich vielleicht doch der eine oder die andere gefragt, ob das gerade bei Oldtimerfreunden häufig anzutreffende Schwelgen in der nostalgisch verklärten Vergangenheit nicht auf einem Trugschluss basiert und die heutige Zeit in jeder Hinsicht trotz Ängsten vor Elektrosmog, Feinstaub oder Ozonlöchern eine unvergleichlich bessere Lebensqualität gewährleistet.

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